Kategorien
Alpen Max

Prima Solda, dopo Stelvio

Das Stilfser Joch ist zwar keine unbekannte Straße oder ein Geheimtipp – im Gegenteil. Aber Ende Oktober hat man auch hier den Pass fast für sich allein. Vorher ging es trotzdem noch einen anderen Geheimtipp besuchen: Sulden.

Auf der Agenda, möglichst ruhige und verlassene Straßen in Südtirol zu suchen, hat das Stilfser Joch sicherlich nichts verloren. Aber bereits am Mittwoch sah ich auf Instagram, dass es dort oben noch gut befahrbar und vor allem leer aussieht. Warum nicht also den König der Pässe kurz vor seinem Winterschlaf auch noch einmal mitnehmen? Die eigentliche Idee: Mit der Vinschgerbahn bis Spondinig und von dort starten. Doch die für den Freitag eingeführte Impfpflicht in Italien ließ Zugausfälle voraussagen, daneben ist der Radtransport in der Vinschgerbahn eh immer kompliziert. Dass ich an dem Tag dann etwas verschlafen hab, gab den letzten Impuls – ich fahre die Strecke komplett von Meran aus.

Los ging es wieder durch die Stadt, auf den Etschtalradweg, erste Station: Warmfahren am Piccolo Stelvio, ich kannte ihn ja schon von der Fahrt ins Martelltal. Herrlichstes Wetter war für diesen Tag angesagt und ich dachte kurz nach dem Start noch, ich hätte mich zu warm angezogen. Doch kaum verschwand ich bei Algund im Vinschgau, war ich wieder im Schatten. Die Zehen trotz Wintersocken am Einfrieren, die Finger gerade noch so am Überleben in den Handschuhen. Nach wenigen Kilometern erschien die Sonne dann aber auch endlich im Tal der Äpfel und sorgte wieder für wunderbare Ausblicke nach rechts, links, vorn, oben. Hinter Naturns an der Etsch mit ihrem kristallblauen Wasser erst einmal Fotostopp.

Urlaubs-Feeling pur an der kristallblauen Etsch

Den Etschtalradweg kannte ich ja nun schon, es ging eilig voran, zu dieser „frühen“ Uhrzeit zum Glück auch noch ohne viele Touristen. Ab Goldrain dann quasi neue Gefilde, das letzte Mal bin ich hier mit meinem Papa vor wahrscheinlich 15 Jahren vom Reschensee bis Meran hinuntergefahren. Es folgt ein eingeplanter Gravel-Abschnitt, Komoot wollte mich erst über einen geteerten Umweg leiten – die zusätzlichen Höhenmeter wollte ich mir aber für die großen Anstiege sparen. In Laas treffe ich auf einen meiner wenigen Rennrad-Flybys des Tages, fahre ein Stück hinter ihm her und biege dann in die Apfelfelder ab. Kurzer Umweg nach Spondinig, dann rauf auf die Straße zum Pass der Pässe.

Prad ganz schön im Sonnenlicht und noch recht ruhig, Erinnerungen an die Spuma-Käufe 2017 werden wach. Die ersten richtigen Höhenmeter am Stück danach beginnen recht entspannt und ich wundere mich, ob ich dort oben wirklich schon Stilfs ausmachen kann. Aber ja, plötzlich durchfahre ich schon Stilfserbrücke und ehe ich mich versehe bin ich in Gomagoi. Die Sonne wärmt, ich entledige mich meiner Windjacke, das Schild sagt: „Stilfser Joch geöffnet“, doch ich biege erst einmal in die Sackgasse nach Sulden ab. Das sollte drin sein, wenn ich schon mal hier bin, und ich freue mich auf eine heiße Schokolade im Nives.

Kurz vor Prad noch in den Apfelplantagen, das Tagesziel aber schon genau vor Augen

Erst letztens fuhr eine Radfahrerin in meinem Strava-Feed noch den Stelvio und ebenfalls vorher nach Sulden, ganz so wie Philipp und ich es 2017 gemacht haben. Ich kommentierte deshalb, dass mir der Anstieg nach Sulden schmerzhafter in Erinnerung war als das Stilfser Joch. Jetzt holte mich mein Kommentar natürlich sofort wieder ein. Die ersten Serpentinen in das höchste Dorf Südtirols tun wirklich ganz gut weh, die Prozente auf dem Wahoo schon längst wieder zweistellig. Doch die ganze Mühe lohnt sich. Nach jeder Kehre wartet ein neues Postkartenmotiv. Die Kühe grüßen mich mit ihren niedlichen Blicken, der Bus nach Sulden auch, im Augenwinkel immer das Massiv des Ortlers. So einfach kann man mich motivieren.

Der Anstieg nach Sulden ist noch leerer als das Stilfser Joch, aber voller Postkartenmotive

Zwischendurch immer mal wieder flachere Abschnitte, es rollt sich einfach wie auf Wolke 7, und damit meine ich nicht die eher mäßigen Straßenverhältnisse. Höchstes Dorf, höchster Berg, wie nah kann man dem Paradies schon sein? Dann folgt der erste Schnee am Straßenrand, die letzten Serpentinen ins Dorf, die Beine tun jetzt schon weh. Und damit noch aufs Stilfser Joch? Erst einmal Stärkung. Aber wo? Das Nives ist noch im Urlaub, die restlichen Hotels und Cafés anscheinend auch. Sulden wie ausgestorben, nur Bauarbeiter wuseln hier und da herum. Ich fahre ganz ans Ende zur Seilbahn, da ist doch immer was auf, aber weit gefehlt. Beim Zurückrollen fällt mir eine Aprés-Ski-Bar ins Auge, „geöffnet“, ein anderer Mann sitzt dort mit seinem Baguette. Dann wird’s das jetzt wohl richten müssen.

Blick auf Sulden im Herbstschlaf

In der Sonne sitzend bei Baguette und heißer Schokolade wird mir richtig warm, der (Sonnen-)schein trügt aber: Bei der anschließenden Abfahrt wünschte ich mir meine Handschuhe an die Finger. Zu spät, ich steckte mitten in den Serpentinen, hab es plötzlich zu eilig. Der Zeitplan wird eng: Es ist schon knapp 14 Uhr, ob sich da ein Aufstieg auf den höchsten Pass noch lohnt? Bis ich oben bin, ist es doch sicher dunkel. Noch liegt aber alles im Sonnenschein, also los. Die sagenumwobenden 48 Kehren liegen wieder vor mir und die ersten Meter klappen auch noch ganz gut. Mal ein kurzer Blick auf die Planung: Noch 20 Kilometer, hui, das wird eine harte Nuss.

Ich lege immer öfter Pausen ein, in kleinen Happen ist das dann doch einfacher zu schaffen. Das Wissen, dass ich jetzt gerade mal zwei der 48 Kehren geschafft habe, hilft aber nicht unbedingt bei der Motivation. Zwischendurch noch Flaschen auffüllen, mit mehr Gewicht fährt es sich bekanntlich einfacher bergauf. In den Serpentinen im Wald kommt mir ein E-Bike-Rentner-Ehepaar entgegen, beide mit nicht sonderlich begeisterten Blicken beim Abfahren. Ob sie damit wohl auch hochgefahren sind?

Hinter den Bäumen und Gipfeln guckt noch die Sonne hervor, doch nicht mehr lange

Kehre 28, die Bäume lichten sich so langsam. Bisher ein paar wenige Autos, aber der Anstieg an sich ist sehr ruhig. Die Schatten werden immer länger, genau wie die Anzahl meiner Pausen. Gefühlt halte ich jede zweite Kehre an, immer die, bei der gerade die Sonne noch ist. Helfe mir mit tollen Ohrwürmern, Abba singt im Kopf „Tornante, tornante“ statt „Andante, andante“. Irgendwo auf der Straße steht „1/3 Done“ – was? Das war doch sicherlich schon fast die Hälfte! Irgendwann taucht auch endlich die 24. Kehre auf und die Beine sind schon unglaublich leer. Ob ich nicht einfach umdrehen soll? Dann spare ich auch Zeit und komme noch im Hellen an. Die Versuchung ist kurz da. Aber ich weiß: Dann würde ich mich auch wieder nur ärgern. Also weiter, Kehre um Kehre, tornante, tornante.

Irgendwann taucht vor mir endlich der Ausblick auf die restlichen Kilometer bis zur Passhöhe auf. Halleluja, ob ich das heute noch hinkriege? „7 km to go“ steht auf der Straße. Na gut. Überhole einen Bikepacker mit deutlich mehr Gewicht am Rad, „almost done!“, wir kriegen das gemeinsam hin. Der Bus kommt mir gleich zwei Mal entgegen, wenn das nicht ein Zeichen ist. Pause. Wieder zwei Kehren, Pause. Der Blick nach unten: Ich hab doch schon ganz schön was geschafft. Vor vier Jahren kam es mir aber einfacher vor. Wieder weiter, Pause, und weiter. So wiederholt sich das Spiel.

„5 km to go“ steht auf der Straße, die letzten Körner werden herausgekratzt

Je höher ich steige, desto mehr vergeht die Zeit, der Großteil der Straße ist nun schon im Schatten verschwunden. Mache schnell noch ein paar Fotos mit der Sonne, ehe sie ganz hinterm Berg verschwindet. „2 km to go“, das schaffe ich jetzt auch noch. Vor mir taucht auch noch ein Rennradfahrer auf, los jetzt. Die letzte Kehre, dann der letzte Schub Kraft, geschafft. Während in Sulden noch Herbstschlaf herrschte, hat hier oben sogar die Bratwurstbude auf. Zwei andere Radfahrer kommen auch gerade an, schnell das Foto am Passschild geschossen. Handschuhe an, Windjacke ganz zu, Buff über die Ohren und wieder herunter. Letztes Mal sind Philipp und ich über die Schweiz heruntergedüst, heute fahre ich aus Zeitmangel wieder die 48 Kehren nach Prad hinab, habe ich das auch mal gemacht. Den Ohrwurm von Santa Maria habe ich trotzdem.

Geschafft! Das zweite Mal auf dem Stilfser Joch

Abfahren macht immer wieder Spaß, mit jeder Kehre wird’s schneller und das Adrenalin schießt durch jedes Körperteil. Nur nicht mehr so durch die Zehen und Finger, die frieren hier jetzt im kalten Schatten doch wieder ein. Überhole einen anderen Radfahrer in der Abfahrt, wir treffen uns bei der Baustellenampel vor Prad wieder, ihm entweicht auch nur ein „Cold!“. Dann geht’s wieder auf den Etschtalradweg, hier im Vinschgau zum Glück noch etwas Sonne, kurz wieder die Handschuhe aus. Ich hatte erst die Befürchtung, dass sich der Rückweg jetzt noch unglaublich hinziehen wird, aber im Gegenteil: Mit dem leichten Gefälle düse ich nur so durch die Apfelplantagen, entlang der Etsch und der Vinschgerbahn. Liefere mir noch drei Mal ein Wettrennen mit den Triebwagen, die Beine machen unglaublicherweise noch mit. Im Eiltempo zurück nach Meran, ich fühle mich wie ein Expresszug.

Später holt mich der Schatten ein, Handschuhe wieder an, aber weiter im Eiltempo. Wieder über die Schotter-Passagen, nun doppelt so schnell, mit etwas Zeitdruck im Nacken kitzle ich die letzten Kräfte heraus. Piccolo Stelvio dann schon fast im Dunkeln, das Licht ist an, es reicht jetzt aber für heute auch mit den Stelvios. Zurück in der Stadt freue ich mich nur noch auf eins: Die verdiente Pizza. Was für ein Abschluss einer wunderschönen Radfahr-Woche im Paradies.

Eine Antwort auf „Prima Solda, dopo Stelvio“

Schreibe einen Kommentar zu Flowbabba Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert